Wenn die Opfer zur Staffage werden

August 27, 2025
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Den Opfern zuhören ist wichtig in der Debatte (Foto: BC)

Das Beethovenfest Bonn plant eine #metoo-Debatte. Merkwürdig, dass die Opfer hier nur Staffage sind. Shoko Kuroe über den befremdlichen Umgang mit einem brisanten Thema.

English summary: The Beethovenfest Bonn is hosting a #MeToo-themed event—but victims are sidelined, says Shoko Kuroe. While the artistic program, led by pianist Daniel Arkadij Gerzenberg, is authentic, the event lacks clarity. It conflates child abuse with abuse in the music industry and excludes adult victims from the discussion. Victims feel instrumentalized, not heard. The festival risks symbolic activism over real change.

Vor ein paar Tagen erhielt ich eine E-Mail vom Beethovenfest Bonn. Sie enthielt einen Veranstaltungshinweis und ein Angebot über zwei Freikarten. Ich wurde gebeten, mich bis zum 1. September zurückzumelden, ob ich kommen möchte. Seitdem wurde ich von mehreren Personen angesprochen, die ebenfalls eine solche Mail erhalten haben und sich gewundert haben.

Bei der Veranstaltung handelt es sich um einen »Konzertdiskurs« mit dem Titel Musik Macht Missbrauch, der als Teil des Inside Artists Programms des Beethovenfests Bonn und der Liz Mohn Stiftung im Rahmen von tuned – Netzwerk für zeitgenössische Klassik der Kulturstiftung des Bundes stattfindet. Im künstlerischen Teil gestaltet der Pianist und Lyriker Daniel Arkadij Gerzenberg, der seine Missbrauchserfahrung durch einen Kinderarzt in Lyrik verarbeitet hat, zusammen mit der Sopranistin Sophia Burgos ein Programm, welches neben bekannten klassischen Kunstliedern über Missbrauch (z. B. Heidenröslein, Erlkönig) auch eine Neuvertonung von Lyrik Gerzenbergs durch den Komponisten Hector Docx enthält. Im zweiten Teil diskutieren die Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, Kerstin Claus, der ärztliche Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Universitätsklinikums Ulm, Prof. Dr. Jörg Fegert, sowie die Präsidentin der Münchner Musikhochschule, Prof. Lydia Grün. 

Zu viel Gutes gewollt?

Es ist in jedem Fall mutig von den Organisatoren und den beteiligten Künstlern, im Rahmen eines Festivals eine Veranstaltung zum Thema Missbrauch zu gestalten. Sie verdienen dafür Respekt und Solidarität. Bei der Umsetzung habe ich jedoch Bedenken, denn das Gesamtprogramm ist nicht stringent und reproduziert das gängige Narrativ im Musikbetrieb, welches den Opfern schadet und die Täter schützt. 

Laut Beschreibung handelt es sich beim »Konzertdiskurs« um einen »Abend, an dem mit Wort und Ton das Schweigen über Machtmissbrauch und sexuelle Gewalt in der Musik gebrochen wird«. Es sind jedoch mindestens drei Themenbereiche vorhanden:

  • Verarbeitung von Erfahrungen mit Kindesmissbrauch
  • Missbrauch als Thema eines Musikwerks in der Klassik
  • Missbrauch im Musikbetrieb. 

Wen will man mit der Veranstaltung ansprechen? 

Im Bereich der sexuellen Gewalt gegen Kinder wären es zum einen Menschen, die selbst als Kind sexuelle Gewalt erfahren haben, und zum anderen Menschen, die mit Kindern arbeiten oder Opfer beraten. Hier ginge es darum, dass die Musik zur Heilung des Traumas beitragen kann. Ein weiterer Aspekt wäre, wie Nicht-Betroffene – beispielsweise ein D-Jugend-Fußballtrainer – die Gefühlswelt der Betroffenen beim Missbrauch durch die Musik sinnlich erfahren können. Die zwei Kindesmissbrauchsexperten in der Podiumsdiskussion passen dazu. Wenn der Schwerpunkt der Veranstaltung auf Kindesmissbrauch liegt. sollte man Freikarten eher an diese Zielgruppe verteilen. 

Vermischung der Ebenen

Telefonisch wurde mir jedoch mitgeteilt, dass der Schwerpunkt der Veranstaltung auf dem Missbrauch im Musikbetrieb liegen soll. Dabei ginge es dann allerdings eher um junge Erwachsene als Opfer. Sexueller Missbrauch kann auch in dieser Altersgruppe traumatisch sein, ist bei erwachsenen Opfern aber nicht unbedingt strafbar. Bei erwachsenen Opfern wird hinterfragt, ob es sich um einvernehmlichen Sex, nicht-einvernehmlichen Sex oder eine Vergewaltigung handelte. Eine Anerkennung als Gewalttat ist schwierig und der Prozess häufig retraumatisierend. Ohne eine solche Anerkennung gilt der Täter als unschuldig. 

Bei der Differenzierung zwischen minderjährigen und volljährigen Opfern lautet das Standardargument, dass Kinder schutzbedürftig sind – was richtig ist –, Frauen aber nicht. Was bei Kindern Gewalt ist, wird bei Frauen als ein Moralproblem gehandelt. Die Missbrauchsbeauftragte (aktuell Frau Kerstin Claus) ist nur für Menschen zuständig, die als Minderjährige Opfer wurden. Oft heißt es auch, dass Erwachsene Kinder schützen müssen (was ebenfalls richtig ist), aber wenn ein Musiker, der eine junge Kollegin missbraucht hat, nun Kinder unterrichtet, ist die Missbrauchsbeauftragte nicht zuständig, solange kein Kind offiziell missbraucht wurde. Wie soll diese missbrauchte Kollegin Kinder schützen, wenn ihr nur gesagt wird, dass sie ja erwachsen gewesen war und sich hätte wehren müssen?   

Hinzu kommt, dass der Täter beim Missbrauch im Musikbetrieb aus den eigenen Reihen kommt, vielleicht sogar selbst eine Leitungsposition an einer Musikinstitution innehat oder von der Leitung als Künstler geschätzt wird. Das Opfer kann sich dem Täter und seinem Freundeskreis kaum entziehen, wenn es weiterhin Berufsmusiker sein möchte. Die Klassik-Szene ist klein. Der Täter und sein Freundeskreis versuchen, das Opfer klein zu halten. Das ist nicht nur persönlich belastend, sondern schränkt die künstlerischen Entfaltungsmöglichkeiten des Opfers ein.

Opfer als Staffage?

Um die Thematik zu besprechen, müssen Betroffene in die Debatte eingebunden werden, denn sonst fehlt die Diskussionsgrundlage. Bei der Veranstaltung sitzen jedoch keine Opfer von Missbrauch im Musikbetrieb auf dem Podium, und es ist auch unklar, inwieweit sie sich aus dem Publikum an der Diskussion beteiligen können. (Symbolisch besteht zudem ein Machtgefälle zwischen dem Podium und dem Saal.) 

Es ist bedauerlich, dass das Beethovenfest Bonn mir gegenüber äußerte, keine Betroffenen von Missbrauch im Musikbetrieb zu kennen, die bereit wären, auf dem Podium zu sprechen – dabei hat das Beethovenfest mehreren solchen Betroffenen die Einladungsmail mit dem Freikartenangebot verschickt. Dieser Vorgang macht deutlich, wie unsichtbar die Betroffenen sind und wie wenig ihre Stimmen Gehör finden.

Es heißt immer: »Das Schweigen brechen«. In Wirklichkeit müsste es heißen: „Opfern zuhören!“    

Im Bereich des Kindesmissbrauchs wurden ab 2011 mit der Gründung des Runden Tisches Kindesmissbrauch und des Betroffenenrates Betroffene mit ihrer Erfahrungsexpertise an der Debatte beteiligt. Im Kulturbereich waren Betroffene hingegen bei der Erarbeitung des Positionspapiers des Kulturrates »Gemeinsame Verantwortung: Für sicheres und respektvolles Arbeiten in Kunst, Kultur und Medien« im Jahr 2024 unerwünscht. 

Im Kulturbereich gibt es noch viel zu tun. Der Sinn einer solchen Veranstaltung kann nicht darin bestehen, den Betroffenen das Gefühl zu geben, nur dazu da zu sein, den Saal zu füllen und zu klatschen.

Betroffenheit als Geschäftsmodell?

Im Zuge von Innovation, Transformation und Diversifizierung entdecken sie Kulturinstitutionen zunehmend so genannte »woke« Themen für sich. Die Programmierung soll sich aber meistens innerhalb der gesellschaftlich unkontroversen Zone bewegen. Beim Thema Missbrauch muss es also um Kindesmissbrauch handeln, was jeder schlimm findet, mit einem Täter aus dem außermusikalischen Bereich, und die Musik wird eher als Rettung für die Seele präsentiert. Für den Künstler des Abends, Daniel Arkadij Gerzenberg, passt das freilich, und der künstlerische Teil allein ist legitim, da es seine Herzenssache und sein authentisches persönliches Anliegen ist. Nur ist der Bogen zum Diskursteil nicht stimmig. 

Solche »woken« Themen können auch zum Geschäftsmodell werden: Die Kunst steht für sich und der Künstler lebt ein anderes Leben. Sie können auch eingesetzt werden, um eine Institution weißzuwaschen und zu demonstrieren, wie progressiv man ist. Ich bin mir zwar sicher, dass alle Beteiligten dieser Veranstaltung es gut meinen. Wenn es aber nicht nur um das Konzerterlebnis geht, sondern auch um den Inhalt der Veranstaltung, kommt es darauf an, ob die künstlerische Botschaft des Konzerts auch im realen Leben gelebt wird. An dem Projekt sind beispielsweise zwei Personen von der Hamburger Musikhochschule beteiligt. Der Kampf gegen sexuellen Missbrauch wird dort aber von anderen geführt.  

Shoko Kuroe

Shoko Kuroe tritt als Solistin in Europa, in den USA und in Japan auf, auch mit Orchestern unter Dirigenten wie z. B. Volker Schmidt-Gertenbach, Horia Andreescu und Saulius Sondeckis. Sie ist eine begeisterte Kammermusikerin und arbeitete auch mit Schauspielern wie z.B. Evelyn Hamann, Christoph Bantzer und Hans-Jürgen Schatz zusammen. Ihre Interpretationen sind dokumentiert in internationalen TV- und Rundfunkaufnahmen (u.a. bei ARD, ZDF, NDR, dem Rumänischen Nationalrundfunk) sowie CD- Einspielungen. Seit 1986 ist sie regelmäßig Gast bei internationalen Festivals wie z.B. dem Schleswig-Holstein Musik Festival, wo sie auch als Dozentin an der Orchesterakademie tätig war.

Ein wichtiger Teil ihrer künstlerischen Arbeit liegt in der Musikvermittlung - so wirkte sie u.a. bei Familienkonzerten des Schleswig-Holstein Musikfestivals, am „Training for Education“ Programm des Aldeburgh Festivals sowie an den „Outreach Concerts“ in England und in den USA mit, und entwickelte das Programm „Elise im Wunderland“.

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